Review
Eine tragische Figur
Weit bekannter als die tragische Figur König Ödipus der griechischen Mythologie ist das freudianische psychoanalytische Konzept des Ödipuskomplexes. Nach Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, meint der Ödipuskonflikt die zu starke frühkindliche Bindung eines Abkömmlings an den gegengeschlechtlichen Elternteil; insbesondere die des Sohnes an die Mutter. Grundlage dieser universellen Inzestphantasie ist freilich die griechische Mythologie als unerschöpflicher Quell für Kultur, Philosophie, Wissenschaft und eben auch die Psychologie.
„Dies antwortet dir das Orakel Apollos… Die Frage ist nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst! […]
Die Prophezeiung besagt, dass du deinen Vater töten und dann deine Mutter heiraten wirst.“
Leseprobe aus „Mythen der Antike: Ödipus“, Splitter Verlag
Mit „Mythen der Antike: Ödipus“ wollen Luc Ferry und Clotilde Bruneau dem interessierten Leser erneut die ursprüngliche Sagengeschichte und ihre Bedeutung näherbringen.
Das Schicksal des Ödipus
Aufgrund der Weissagung eines Orakels soll der Königssohn Ödipus ausgesetzt werden und bereits als Säugling den Tod finden. Das Schicksal hat jedoch andere Pläne für den Knaben. Das Kind wird von König Polybos von Korinth adoptiert und somit wiederum zum Königssohn. Als junger Mann erfährt Ödpius von seiner eigentlichen Abstammung und der Weissagung des Orakels. An einer engen Weggabelung trifft Ödipus, ohne es zu ahnen, auf seinen leiblichen Vater, den er infolge eines Gefechts tötet. Anschließend befreit der junge Ödipus Theben von der schrecklichen Sphinx, weshalb er die verwitwete Königin, seine eigene Mutter, zur Frau erhält und zum König ernannt wird. Mutter und Sohn sollen erst viel später erfahren, wie übel das Schicksal ihnen mitgespielt hat.
Spielball der Umwelt
Eine der berühmtesten Tragödien der griechischen Mythologie und eine der bekanntesten der freudianischen Hypothesen – und dennoch sind ganz unterschiedliche Auslegungen und Interpretationen der Geschichte von Ödpius möglich.
Wie bei bisher allen Ausgaben der Reihe „Mythen der Antike“ lohnt sich auch hier ein Blick des Lesers in den umfassenden Ergänzungsteil, der Anhaltspunkte dafür bietet, die Lektüre noch zu vertiefen. So ist es zwar möglich, die Ödipussage als universellen und zeitlosen Komplex zu betrachten; die Sage könnte hingegen auch einer ganz spezifischen Geschichte, einer historisch bezeugten Problematik, angehören, die die Frage nach der Verantwortung des Menschen berührt.
„Trotz seiner Intelligenz wird Ödipus nach und nach zum Spielball von Ereignissen und blinden Kräften, die ihm überlegen sind und die er nie verstehen wird.“
Aus dem Nachwort von Luc Ferry, in: „Mythen der Antike: Ödipus“, Splitter Verlag
Der tragische Ödipus hat, ohne es zu wissen, schreckliche Dinge erlebt und getan: So hat er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter Kinder gezeugt, woraufhin sich seine geliebte Frau das Leben nahm und er sich selbst blendete. Das Leben ist nicht immer gerecht. Handlungen und Folgen sind doch oft sehr vorhersehbar und erklärbar – aber eben nicht immer. Der Mensch kann auch – ohne sein Zutun – zum Spielball des Schicksals werden.
Auch die Theodizee-Frage lässt sich (im Ansatz) in der Geschichte von Ödpius ausmachen. Wie kann die „Gerechtigkeit Gottes“ es – trotz Allmacht und Güte – zulassen, dass ein schuldloser Mann, der nie bewusst etwas Böses getan hat, derartig leiden muss?
Zeichner Diego Oddi präsentiert die tragische Geschichte – wie von der Reihe der wichtigsten Sagen bereits gewohnt – in großartigen Bildern. Zwar kommen die bisherigen Vorgänger in visueller Hinsicht noch etwas stärker daher, doch auch Oddi pflegt einen Stil, der sowohl modern wirkt, indessen auch die griechische Mythologie angemessen verkörpert.
Fazit
„Mythen der Antike: Ödipus“ präsentiert das philosophische und kulturelle Erbe der Geschichte von Ödpius und die Grausamkeiten des Schicksals in gelungener Manier als Comic.
Inhalt
Als Säugling wurde Ödipus von seinen Eltern, den Herrschern von Theben, ausgesetzt, um den Fall des Königreichs zu verhindern. Entgegen aller Erwartung überlebt er als Ziehsohn des Königs von Korinth.
Nachdem ihm das Geheimnis seiner Herkunft offenbart wurde, sucht Ödipus das Orakel von Delphi auf, um seine Abstammung zu verstehen. Doch die Weissagung des Orakels ist schlimmer als alles, was er sich hätte ausmalen können …
(Quelle: Splitter Verlag)
Details
Format: Hardcover
Veröffentlichung: 30.04.2020
Seitenzahl: 56
ISBN: 978-3-96219-419-2
Sprache: Deutsch
Verlagshomepage: Splitter Verlag
Copyright Cover: Splitter Verlag