Review

Da keimt etwas auf

Und wieder einmal dürfen wir euch ein neues Werk des umtriebigen Comic-Schöpfers Jeff Lemire (zuletzt etwa: „Gideon Falls 5: Welten des Bösen“, „Black Hammer: Colonel Weird – Cosmagog“, „Joker: Killer Smile“) präsentieren.

Mit „Family Tree 1: Setzling“ legt der Splitter Verlag den Auftakt einer neuen Serie des kanadischen Star-Autors vor. Dabei wird die Reihe insbesondere wie folgt angekündigt: „»Family Tree« ist mehr als ein Horror-Comic – »Family Tree« ist eine emotionale Familiengeschichte, wie sie nur Lemire schreiben kann.“ [Anm. d. Red.: fette Hervorhebungen durch den Verfasser]

Ob das bzw. was davon tatsächlich zutreffend ist, verraten wir euch in unserer nachfolgenden Besprechung und Analyse des Beginns der Baummenschen.

Durch den Stammbaum

Kassiererin Loretta hat einen ausgesprochen schlechten Tag erwischt. Zunächst belästigt sie ein widerlicher Kunde mit Belanglosigkeiten; dann wird sie – zum wiederholten Male – in die Schule ihres pubertierenden Sohnes Josh bestellt, der Marihuana bei sich geführt hat; und schließlich klagt ihre junge Tochter Meg über einen entsetzlich juckenden Ausschlag am Arm. Wie sich kurz darauf zeigt, handelt es sich dabei allerdings nicht bloß um einen harmlosen Ausschlag. Das Mädchen beginnt, sich nach und nach in einen Baum zu verwandeln. Auf dem Weg zum Arzt geraten Loretta und ihre kleine Familie dann endgültig vom Regen in die Traufe, als eine Gruppe unbekannter Männer ihnen nach dem Leben trachtet.

Plötzlich taucht ausgerechnet Lorettas Schwiegervater aus dem Nichts auf und rettet den Tag. Auf diesen ist die burschikose Frau indes noch schlechter zu sprechen als auf ihren früheren Ehegatten, der die Familie dereinst wortlos verlassen hatte

Action und Emotionalität 

Die verlagseigene Beschreibung sowie die Einordnung ins Horror-Genre gehen (jedenfalls) bislang eher an der Sache vorbei und werden im Zweifel nicht das richtige Zielpublikum ansprechen.

Der Auftakt zu „Family Tree“ beinhaltet allerdings in der Tat eine emotionale Familiengeschichte, glaubhafte und greifbare Figuren sowie eine – immer wieder – actiongeladene Handlung. So ist neben dem (Lemire-typischen) familiären Schwerpunkt sicherlich die Action dominant, wobei das Ganze durchaus fantastische Elemente und gewisse Mystery-Aspekte aufweist. Immerhin verwandeln sich hier urplötzlich Menschen in Bäume, was natürlich alles andere als normal ist. Dazu gesellen sich einige Wahnvorstellungen respektive fantastische und traumhafte Sequenzen.

Wir wollen vorliegend natürlich nicht um eine erste Analyse und inhaltliche Deutung des Stoffes verlegen sein.

Gleich zu Beginn ist hier vom Weltuntergang die Rede. Meines Erachtens ist dies vor allem auf intime und individuelle Gefühlswelten zu übertragen, wie schon der besonders persönliche Titel der Reihe – „Familienstammbaum“ – nahe legt. So geht es hier einerseits um Menschen, die Verluste zu beklagen haben (den Tod eines nahen Angehörigen) sowie um das Leben nach dem Tod; aber andererseits womöglich auch um vererbbare Krankheiten. So ist die junge Meg – nach ihrem Vater – bereits die zweite Person in der Familie, die sich in einen Baum zu verwandelt. Diese Verwandlung kann freilich jede andere (unbekannte) schwere bzw. unheilbare Erkrankung repräsentieren. Dafür sprechen auch einige traumhafte Szenen, die sich ohne Weiteres als jenseitige Erfahrungen bzw. Nahtoderfahrungen deuten lassen.

Vater: „Ich war hier. Na ja, nicht in diesem Raum, aber hier im Zweig mit den anderen.“

Meg: „Im Zweig? Ich versteh nicht. Was ist das für ein Ort? Wer sind diese ganzen Leute?

Vater: „Ich weiß, das ist ein bisschen viel auf einmal, Meggy. Ich versteh’s ja selbst kaum. Aber ich lerne. Langsam, aber sicher.“

Meg: „Das ist alles echt seltsam, Daddy. Ist das ein Traum?

(Auszug aus Jeff Lemires „Family Tree 1: Setzling“, Splitter Verlag)

Dies wäre jedoch keine echte Lemire-Geschichte, wenn angesichts von Krankheit und Tod ausschließlich Wut, Resignation und Trauer vorherrschten. Im Fokus stehen die enge Verbundenheit, die Kraft und der Zusammenhalt der Familie.

Leseprobe aus „Family Tree 1: Setzling“ von Star-Autor Jeff Lemire. (Copyright: Splitter Verlag)

Hoffnung und Zuversicht gibt es auch in einer scheinbar ausweglosen Situation. So können auch scheinbar endgültig zerrissene familiäre Bande wieder hergestellt werden. Lemire ist eben – wie kaum ein anderer aktueller Comic-Autor – bekannt für seine ergreifenden Geschichten („Der Unterwasser-Schweißer“).

Die Zeichner Phil Hester, Eric Gapstur und Ryan Cody entwickeln hier ein Artwork, das durchaus an Lemires eigenen reduzierten, filmischen und in gewisser Weise groben Zeichenstil erinnert („Sweet Tooth – Die Rückkehr“).

Diese kantigen und eigenwilligen Kompositionen harmonieren bestens mit den entsprechenden Charakteren der Geschichte; vor allem zur kratzbürstigen Loretta und ihrem bärbeißigen Schwiegervater.

So sind die Zeichnungen sicherlich Geschmackssache, gefallen mir aber ausgesprochen gut.

Fazit

Einen gruseligen Horror-Comic sollte man hier nicht erwarten. Man erhält stattdessen eine actiongeladene und packende Familiengeschichte mit fantastischen Elementen und Tiefgang.


Family Tree. Band 1: Setzling

Inhalt

Wie weit würdest du gehen, um deine Familie zu retten?

Als eine seltsame Krankheit beginnt, ihre Tochter in einen Baum zu verwandeln, ist Loretta gezwungen, eine Reise quer durch die USA anzutreten, um eine Heilung zu finden. Unterstützt von ihrem pubertierenden Sohn und ihrem – möglicherweise verrückten – Schwiegervater sieht sie sich auf allen Seiten von Feinden umgeben, während sie einer vagen Hoffnung hinterherjagt. Doch im Hintergrund sind Kräfte am Werk, von denen keiner der vier etwas ahnt.

(Quelle: Splitter Verlag)

Autor

Jeff Lemire
(*21. März 1976) ist ein kanadischer Comicautor und Autor.
Lemire ist bekannt für seine launischen, humanistischen Geschichten und seinen skizzenhaften, filmischen Schwarzweiß-Zeichenstil.

(Quelle: Wikipedia)

Jeff Lemire – Homepage | Jeff Lemire – Twitter

Details

Format: Hardcover, Bookformat
Veröffentlichung: 26.05.2021
Seitenzahl: 96
ISBN: 978-3-96792-040-6
Sprache: Deutsch
Verlagshomepage: Splitter Verlag

Copyright Cover: Splitter Verlag



Über den Autor

Fabian
"Du lächelst wie jemand, der keine Ahnung hat, wozu ein Lächeln überhaupt gut ist." (Das kleine, blaue, geflügelte Einhorn Happy, in: Happy!)