Review
„Ein dringendes,
ein forderndes,
ein nicht einfaches Stück,
das uns an keiner Stelle unterhalten will,
sondern unentwegt dazu auffordert,
das Grausame aus unserer Welt zu bannen.
Am besten sofort.“
(Iris Berben, Schauspielerin und Schirmherrin)
Mit diesen Worten äußert sich Schauspielerin Iris Berben zu dem Projekt über Erinnerungskultur und Toleranz namens „Die Kinder der toten Stadt“, ein „Musikdrama gegen das Vergessen“ in 5 Akten, eingerahmt von einem Prolog und Epilog.
Die auf historischen Fakten beruhende Handlung (mit hier allerdings frei erfundenen Personen) erzählt vom Schicksal der Kinder in Theresienstadt:
Als am 23. Juni 1944, in der Endphase des NS-Regimes, eine Abordnung des Internationalen Roten Kreuzes dieses Lager besuchte, um sich – unter Führung der NS-Offiziere – davon zu überzeugen, dass es den Inhaftierten dort an nichts fehlte, wurde dafür eine große propagandistische Farce inszeniert.
Indem die Gefangenen im Vorfeld vordergründig die Häuser restaurieren mussten, Speisen aufgetischt wurden, die niemand anrühren durfte, und Sport- und Musikveranstaltungen, darunter die vom Komponisten selbst geleitete Kinderoper „Brundibar“ von Hans Krásas, dargeboten wurden, täuschte man die Besucher absichtlich – und sie fielen darauf hinein; nicht ahnend, dass alle Mitwirkenden nach ihrer Abreise nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Unter ihnen sowohl die Kinder als auch der Komponist und der ebenfalls in Theresienstadt inhaftierte Regisseur Kurt Gerron, der diese Vortäuschung einer „heilen Welt“ für Propagandazwecke filmisch dokumentieren musste.
Dieses Geschehnis greift „Die Kinder der toten Stadt“ fundiert auf und wartet dabei nicht nur mit historischer und musikpädagogischer Beratung, einem Inszenierungs- und pädagogischen Konzept, sondern auch mit einem Erfahrungsbericht einer Zeitzeugin auf.
Letztere (Esther Bejarano) übernimmt außerdem die Rolle der Pianistin in (der uns als Hörspiel-Edition vorliegenden Version von) „Die Kinder der toten Stadt“.
Im eigentlichen Mittelpunkt stehen jedoch – wie der Name des Stückes schon verrät – die Kinder; in den Hauptrollen: sieben Kinder zwischen 6 und 15 Jahren.
Für zwei Figuren fanden die Initiatoren mit der Sängerin Jade Schulz (als Hannah) und dem 2018er ESC-Teilnehmer Michael Schulte (als Albert) eine nicht nur prominente, sondern zugleich hervorragende und ausdrucksstarke Besetzung.
Vor allem sie beide sowie Nils Dahl, Nicole Frolov („The Voice Kids“), Lisa Kirchberg und Marlene Kirchberg in weiteren Rollen liefern eine gesanglich starke und gefühlvolle Leistung ab, die die Intensität und Wirkung des Stückes einmal mehr untermauert, als es der traurige Inhalt bereits zu tun vermag.
Musikalisch stellt sich „Die Kinder der toten Stadt“ sehr breit und offen auf. Von orchestralen Songarrangements, über rockige Lieder, Folklore-Nummern, szenische Ensemble-Stücke bis hin zu elektronisch geprägten und Pop angehauchten Titeln und dem Einsatz von Chören werden Hörer diverser stilistischer Vorlieben angesprochen.
Daneben werden narrative Parts (u.a. jene vom Erzähler im Prolog des Stückes) teils durch eine wundervolle emotionale orchestrale Begleitung unterstützt, was zur Wirkweise zusätzlich beiträgt.
Nicht minder erwähnenswert sind die (nicht singenden, sondern sprechenden) Erwachsenenrollen, besetzt durch Peter Heppner (als Komponist) und Willi Hagemeier als Erzähler.
Auch eingangs erwähnte Iris Berben tritt hier als Sprecherin (in der Rolle als Frau des Komponisten) auf; gleichsam ist sie zudem Schirmherrin des Theaterstücks, das neben einer Produktion als Album und Hörspiel vorrangig dazu konzipiert wurde, vor allem Schüler und Lehrer zu inspirieren, sich mit diesem Thema im Unterricht zu beschäftigen.

Einblicke ins Making-of von „Die Kinder der toten Stadt“ | Copyright: Deutsches Institut für Erinnerungskultur (DIFEK)
Entsprechend halten die Verantwortlichen des Musikdramas zusätzlich zur Audio-Produktion reichhaltiges historisches und didaktisches Material bereit, um Schulprojekte und Schulaufführungen möglich zu machen und so diesen Teil der Geschichte auf mal weniger sachliche und theoretische Art in den Unterricht und in die Köpfe der Menschen zu tragen.
Dass aus allen Gräueltaten der NS-Zeit das Schicksal der Kinder in Theresienstadt thematisiert wird, kommt diesem Vorhaben insofern zugute, da es die Geschehnisse der Vergangenheit näher an die SchülerInnen bringt, indem sie sich mit den Opfern direkter identifizieren, sich in sie hineindenken und ihre Erlebnisse daher unvermittelter und weniger distanziert nachvollziehen können.
Die im Stück implizierten philosophischen Fragen geben darüber hinaus Freiraum für Diskussionen, eigene Gedanken und einer neuen möglichen Suche nach Antworten auf Sinnfragen des Lebens; vorrangig aber wird „Die Kinder der toten Stadt“ seinem Zweck gerecht, ein „Musikdrama gegen das Vergessen“ zu sein, und richtet sich nicht ausnahmslos an Schulklassen, sondern gehört auch als Album- oder Hörspiel-Fassung unbedingt gehört.
Denn vergessen wird immer viel zu schnell.
Entsprechend wichtig und zeitlos erscheint auch im Jahr 2018 folgender Auszug aus dem fünften Akt des Stückes:
„Wir Geister der Toten sind hier überall
Wir schauen euch an und fragen uns dann
Ob ihr alles tut, damit das nie wieder geschehen kann“
(aus „Das Lied von den Geistern“, 5. Akt)
Traurig, aber wahr muss diese indirekte Frage angesichts der Zunahme an fremdenfeindlichen und antisemitischen Vorfällen (zuletzt publik geworden durch die Mobbing-Vorkommnisse an einen Neuntklässler an der John-F.-Kennedy-Schule in Berlin) und in Zeiten, in denen AfD-Politiker mit antisemitischen Äußerungen an die Öffentlichkeit treten, aktuell verneint werden. Vielleicht (und hoffentlich) trägt „Die Kinder der toten Stadt“ dazu bei, das Denken zu ändern, sodass genug getan wird, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Nicht-Vergessen ist ein erster Schritt, der genau dazu beiträgt und dem entsprechendes Handeln folgen muss. In diesem Sinne: ein empfehlenswertes und unterstützenswertes Projekt!
Trailer
Inhalt
„Die Kinder der toten Stadt“ basiert auf einer wahren Begebenheit. Es erzählt vom Schicksal der im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftierten Kinder. Die Handlung basiert auf historischen Fakten, die sich ereigneten, als eine internationale Delegation das Ghetto besuchte, um sich davon zu überzeugen, „dass es den Bewohnern gut gehe“. Die SS inszenierte in monatelanger Vorbereitung ein perfektes Trugbild. Neben dem Bau von Kaffeehäusern mit reich gedeckten Tischen, der Errichtung eines Musikpavillons und vielen anderen Inszenierungen wurden die Kinder gezwungen, eine Kinderoper aufzuführen. Kurz danach wurden fast alle Häftlinge, die an der Aufführung teilhatten, sowie das Filmteam, das sie für einen Propagandafilm aufzeichnete, in Auschwitz ermordet.
Ihnen allen ist „Die Kinder der toten Stadt“ gewidmet.
Die Kinder der toten Stadt – Homepage
Die Kinder der toten Stadt – Facebook
Die Kinder der toten Stadt – Twitter
Projekt
Das Projekt hat das Ziel, neben der Produktion als Album und Hörspiel, vor allem Schüler und Lehrer zu inspirieren, sich mit diesem Thema im Unterricht zu beschäftigen. Zusätzlich zur Audio-Produktion selbst wird ein reichhaltiges historisches und didaktisches Material produziert und zur Verfügung gestellt, um Schulprojekte und Schulaufführungen möglich zu machen.
Autoren
„Die Kinder der toten Stadt“ ist ein Projekt, dass zunächst für Schülerinnen und Schüler geschrieben und komponiert wurde. Unter der Projektleitung von Dr. Sarah Kass, Pädagogin und Leiterin des Deutschen Instituts für Erinnerungskultur haben es die Autoren Lars Hesse (Musik) und Thomas Auerswald (Texte) geschafft, ein durchaus umsetzbares neues Werk für die Schultheaterbühne entstehen zu lassen, dass ein dezidiertes Ziel hat: Es lässt junge Menschen von heute ganz anders mit dem schrecklichen Geschehen von damals in Berührung kommen. Wer sich mit den Kindern durch eine Theaterarbeit wie diese identifiziert, hat einen ganz anderen Blick auf die Vergangenheit – und hoffentlich auch auf die Zukunft.