Review
Das Jahr 2020 war – gelinde gesagt – ein Seuchenjahr und von einem Thema überschattet: der Corona-Krise.
Ein Mann, der in einer Art düsteren Vorsehung so etwas geahnt zu haben scheint, ist der britische Comic-Autor Jamie Delano. Dieser beschäftigte sich bereits vor etlichen Jahren in seiner vierteiligen dystopischen Zukunftsvision „2020 Visions“, die im Jahre 1997 unter DCs „erwachsenem“ Vertigo-Label herauskam, mit den Schrecken des 21. Jahrhunderts. Freilich hat der Autor dabei nicht präzise die Zukunft aus dem Kaffeesatz gelesen; und dennoch sind diverse Textpassagen doch geradezu erschreckend akkurat.
Kleines Beispiel gefällig?
„Die Seuchen ha’m die Stadt vor fünfzehn Jahren erstmals heimgesucht. Nachdem die Viren gegen Antibiotika immun geworden waren, tauchten alle alten Plagen wieder auf … und ’n paar echt fiese neue.
Das hat die Regierung natürlich genutzt, über Nacht drakonische Maßnahmen zu ergreifen … obligatorische Bluttests … Reisebeschränkungen … Zwangsquarantäne … „
Auszug aus „2020 Visions 1 – Lebensgier & La Tormenta“, Dantes Verlag
Und eben in diesem strapaziösen Jahr legt der Dantes Verlag („Eine Studie in Smaragdgrün“) mit dem hübschen Hardcover „2020 Visions 1 – Lebensgier & La Tormenta“ die ersten beiden dieser finsteren Hirngespinste und zuweilen widerlichen Ergüsse aus der Feder von Delano in deutscher Sprache vor.
Horror und Crime
Den Auftakt macht die Geschichte „Lebensgier“ (Original: „Lust For Life„), in Szene gesetzt von Frank Quitely. In dieser Vision blicken wir in eine alptraumhafte Welt, in der der Großteil der Menschheit zusammengepfercht auf kleinstem Raum in Ghettos lebt, während sich nur noch elitäre Randgruppen bester Gesundheit und ihres Lebens erfreuen. Hier begleiten wir den abgehalfterten Protagonisten Alex Woycheck auf seiner Reise durch das seuchengeplagte Grauen bis hin zu seinen letzten Tagen auf der Erde.
Im Nachgang widmet sich Delano in einem futuristischen Setting mit „La Tormenta“ einer Crime-Noir-Story. Die Detektivin Jack wird beauftragt, die verschwundene Schwester eines Gangsters aufzuspüren; dabei treibt sie durch den Sündenpfuhl der Großstadt und wird mit widerlichen Machenschaften konfrontiert.
Bewertung
Mit den ersten beiden seiner finsteren Vorahnungen zeigt Jamie Delano auf eindrucksvoll abstoßende Art und Weise, dass uns das Jahr 2020 durchaus auch noch schlimmer hätte ereilen können. Dabei erinnert das Werk mit seiner schmutzigen, perversen und ekelerregenden wie hoffnungslosen Welt immer wieder auch an „Crossed“ von den Autoren Jacen Burrows und Garth Ennis.
Die deutlich stärkere und interessantere der hier umfassten Geschichten ist dabei „Lebensgier“. Eine dreckige und verstörende Version von „Elysium“, in der die menschliche Zivilisation in jeder Hinsicht gescheitert ist und nur noch eine kleine Schicht von Privilegierten in Frieden leben kann. Dieser durch und durch pessimistische Blick auf die Zukunft des 21. Jahrhunderts ist ganz bestimmt nichts für seichte Gemüter. Die Bilder von Frank Quitely transportieren hier passend den antiutopischen Klassen- und Überlebenskampf.
„La Tormenta“ kann im Gegensatz dazu leider primär mit einer fesselnden Prämisse aufwarten. Nachfolgend wandelt sich die eigentliche Lektüre zügig zu einer recht handelsüblichen Story, die ihr düsteres Szenario nur am Rande auszuspielen weiß. Für das Artwork gilt nichts anderes: Die Zeichnungen von Warren Pleece fallen qualitativ stark gegenüber denen von Quitely ab. Und während im Einführungstext noch von überschwemmten Landstrichen und Alligatoren die Rede ist, kommt die präsentierte Welt nur recht unspektakulär daher.
Fazit
Während die gegenwärtige Corona-Pandemie und die damit einhergehende globale Krise die menschliche Zivilisation auf eine harte Probe stellen, hatte Autor Jamie Delano seinerzeit offenkundig noch weniger Hoffnung in die Zukunft. Die Ideen in „2020 Visions“ sind bisweilen erschreckend weitsichtig und fordern nach einem Leser, der in der jetzigen Lage mit derart deprimierendem Stoff umzugehen weiß.
Inhalt
Wie alt werdet ihr im Jahr 2020 sein?
Ich werde dann verfickte sechsundsechzig sein. Un-glaub-lich!
Als ich noch ein Kind war, hatte ich für das 21. Jahrhundert die größten Hoffnungen. All diese Gadgets … Raketenrucksäcke … Roboter … Luftkissenautos. Dann entdeckte ich die Bombe. Die Bombe. Und die Zukunft wurde unwichtig und bedeutungslos.
Jetzt, wo sich der Vorhang vor der neuen Jahrtausend-Show zu heben beginnt, überrascht mich ein perverses Verlangen danach, die Fortsetzung des verrückten Menschheitsfilms sehen zu können.
Wenn es um die Zukunft geht, ist nur eins wirklich sicher: dass sie nie so wird, wie sie die Leute sich vorstellen. Vorhersagen sind sinnlos. Der Verstand und die Zeit werden jede noch so ambitionierte hellseherische Vision überflügeln und in den Schatten stellen.
Die vier Geschichten, die ich in 2020 Visions erzähle, sollen folglich weder Futurologie sein noch Science Fiction oder Alternativweltgeschichte. In ihnen schildere ich kleine menschliche Dramen, die sich vor einem Postmilleniumshintergrund abspielen, in den Vereinigten Staaten einer nahen Zukunft, die ich meinen politischen Ansichten und persönlichen Vorurteilen gemäß ausgestaltet habe und die danach von meinen künstlerischen Mitarbeitern, allesamt großartige Zeichner, aufs Papier halluziniert worden sind. In 2020 Visions geht es um Angst … Mord und Totschlag … Sex … Liebe und Hass … eben darum, was Leute so umtreibt. Denn wie radikal auch immer unsere Technologien und unsere Kulturen sich verändern werden … es sind die Menschen, die die besten Geschichten liefern.
2020 ist niemals fern, es lauert immer gleich hinter der nächsten Ecke. Wir sehen uns dann.
– Jamie Delano, 1997
(Quelle: Dantes Verlag)
Autor
Jamie Delano
Jahrgang 1954, brauchte viele Jahre, um seinen vagen Vorsatz, eines Tages vom Schreiben leben zu können, Wirklichkeit werden zu sehen. Er war 29 und hatte bereits diverse anstrengende Ausflüge in andere Branchen hinter sich – darunter Tätigkeiten als Bibliothekar, Holzfäller und Taxifahrer –, als ihm ein strebsamerer Freund die Möglichkeit verschaffte, professionell als Schreiber für erst britische, dann amerikanische Comicheftverlage arbeiten zu können.
Seither hat er breit Gestreutes, Genreübergreifendes zur Heftchenindustrie beigetragen, darunter sowohl Szenarien zu selbst erdachten Stoffen (World Without End, Tainted, Ghostdancing, Hell Eternal, Cruel and Unusual, Territory und Outlaw Nation), als auch Episoden zu Serien im Besitz von Verwertern (Captain Britain, Dr. Who, Night Raven, Hellblazer, Animal Man, Batman, Shadowman und Crossed: Badlands). Von Delano liegt auf Deutsch vor: World Without End als Welt ohne Ende 1992 beim Norbert Hethke Verlag, Batman – Manbat 1997 bei Carlsen, eine Episode aus Die Bücher der Magie – Kinderkreuzzug #3 1998 bei Speed, Hellblazer – Erbsünde 1999 bei Schreiber & Leser und Crossed – Badlands #4 2013 bei Panini.
1999 erhielt Delano den Auftrag, eines seiner Skripte zu einem Filmdrehbuch umzuschreiben, nämlich Hell Eternal. Die damit einhergehenden Erfahrungen waren gleichzeitig faszinierend und frustrierend, so dass er sich ermuntert fühlte, mehr über das Handwerk des Drehbuchschreibens zu lernen. Auch wenn er gelegentlich immer noch für die Comics schreibt, dauert sein Flirt mit dem bewegten Bild bis heute an.
Die letzten Jahre hat sich Delano auch als Romanautor hervorgetan.
Delano lebt mit seiner Lebensgefährtin Sue im halbwegs dörflichen Northamptonshire. Die beiden haben drei erwachsene Kinder und, Stand 2019, fünf Enkel.
(Quelle: Dantes Verlag)
Details
Format: Hardcover
Veröffentlichung: 29.09.2020
Seitenzahl: 156
ISBN: 978-3-946952-60-2
Sprache: Deutsch
Verlagshomepage: Dantes Verlag
Copyright Cover: ©2020 Dantes Verlag und Jamie Delano; Illu. Marco Failla